Ich war das erste Mal vor 46 Jahren in Florida, seitdem bin ich sicher über 20 Mal wieder hierher gefahren. Jetzt bin ich über vier Monate hier und weiß, wie anders es sich wirklich anfühlt. Wenn man als Tourist kommt, betrachtet man sehr aufmerksam seine Umgebung. Man sieht das Meer und die Häuser, die Kanäle und die Shopping-Malls. Florida ist das Land des Golfspielens, des Bootfahrens, der Outlets und der Sonne. Sobald man hier lebt, ändert sich dieser Blick. Man schaut plötzlich auf die Praktikabilität der Dinge. Da wird die Nähe zum Supermarkt wichtiger als die Nähe zum Meer.
Der Traum, in dem ich jeden Morgen aufwache, der Pool, der Kanal mit seinen vielen Booten, die Küche auf der Terrasse, die Palmen und die Bougainville, der ist nur ein Teil des Ganzen. Ich lebe drinnen, die Klimaanlage ist angeschaltet und ich sitze in einer schattigen Ecke des Hauses an einem viel zu hohen Esstisch und schreibe. Zwischendurch fahre ich mal schnell zu Publix, weil der Mensch nicht nur von Floridianischer Luft und Liebe lebt. Und jeden Abend kommt die Entscheidung: Terrasse oder Essengehen. Wenn man drei Wochen im Urlaub ist, dann sind die Fast Food-Läden ja mal eine ganz nette Abwechslung. Wenn man hier jedoch lebt, dann sind die Fast Food-Läden ein Frontalangriff auf die Figur. Ich esse bestimmt nicht mehr als in Deutschland, aber ich habe über sechs Kilo zugenommen. Fast Food ist hier alles - in Amerika wird Essengehen als reine Nahrungsaufnahme gesehen. Die Läden sind auf Eisschrank-Temperaturen heruntergekühlt und sobald man sein hand-breadded Essen heruntergeschlungen hat, kommt die Rechnung. Take your time heißt nämlich, zahl endlich und verschwinde! Wobei es egal ist, ob man billig wie bei Chilli's oder Bob Evans speist oder überteuert bei Brew Babies oder Slates.
Wenn man im Urlaub ist, dann fährt man hier rum, schaut sich alle möglichen und unmöglichen Sehenswürdigkeiten an. Wenn man hier arbeitet, fährt man nur rum, um zu recherchieren. Auch wenn ein Rezensent neulich meinte, ich würde mit Google maps recherchieren - noch mache ich das selbst, live und in Farbe. Und dann sieht man eher weniger von den Schönheiten der Landschaft, sondern überlegt, ob dieses oder jenes Haus für einen netten kleinen Mord in Frage käme. Die Rahmenbedingungen müssen schließlich stimmen: Wie kann die Leiche entsorgt werden, wo nähert man sich unauffällig seinem Opfer, ohne dass eine der allgegenwärtigen Kameras das aufnimmt. Wie weit ist es von a nach b und wo komme ich mit dem Boot oder dem Flugzeug hin. Selbst Flora und Fauna werden nicht bestaunt, sondern auf Romantauglichkeit hin untersucht. Der Sound muss stimmen, welche Vögel sind wo und geben welche Geräusche von sich, welche Bäume bewegen ihre Blätter wie im Wind.
Und noch etwas ist anders, wenn man hier lebt. Man lernt eine Menge über Amerika und die amerikanische Mentalität. Nicht nur dank Fernsehen, das hier noch unerträglicher ist als zu Hause. Man schaut einfach nicht immer durch die rosarote Liebesbrille auf das Land, sondern ist auch den Widrigkeiten komplett ausgeliefert. Seien es die Dramen mit Handwerkern und Ärzten oder die Tücken der Technik, man fängt an, die Denkweise die hinter den von uns als ungewöhnlich empfundenen Gepflogenheiten steht, zu begreifen. Und wieder ist es wie mit der Liebe: man liebt nie weil, sondern immer trotz. Ich liebe dieses Land, trotz...
Trotzdem würde ich mich niemals trauen, einen Roman zu schreiben, in dem die Protagonistin Amerikanerin ist. Ich bin Deutsche und wie sehr ich deutsch denke, merke ich hier jeden Tag. Mein Heldin in "Das 2. Gesicht" kommt nach Florida und sieht das Land mit deutschen Augen. Mit meinen Augen, natürlich.
Ich habe früher immer gesagt: Zuhause ist, wenn die Bäckerin fragt, wie denn der Urlaub in Florida war. Hier in Florida grüßt mich die ungefähr 80jährige Backwarenverkäuferin schon von weitem und fragt, ob ich heute wieder 2 Donuts möchte. Sie hätte aber auch noch ein frisches White Mountain-Brot für mich. Da ist Maik, der Deutsche an der Kasse bei Publix, der fragt, ob mein Mann denn schon wieder besser laufen kann. Da ist die Frau aus Laos bei Sans Sushi, die genau weiß, dass ich echt keinen Aal mag. Oder die Frau in der Reinigung, die bereits unsere Hemden auf den Tresen legt, wenn sie sieht, dass ich mit dem Auto vor dem Laden halte. Das hat noch nie jemand bei Tip-Top in Berlin-Zehlendorf geschafft. Peggy, die Kapitänin aus Anchorage winkt mir zu, wenn sie morgens ihre Touristen zum Kanufahren transportiert, Nachbar Dave grüßt von weitem und sein Hund Ricco springt in meine Arme. Jetzt also bin ich hier zu Hause.